26 Menschen


Es war eine schlechte Zeit: ich konnte beruflich keine Initiative entwickeln.
Ulrike, eine ehemalige Liebhaberin, hatte mir die Beteiligung an einer freien Theatergruppe vermittelt.
Dafür war ich ihr sehr dankbar.
26 Menschen wollten zusammenarbeiten; und das ist eine große Anzahl –
Natürlich hatte ich damit gerechnet, meiner künstlerischen Potenz entsprechend, in dieser Gruppe eine bedeutendere Position innehaben zu können. Umso erstaunter war ich, als für mich, nachdem die wesentlichen Funktionen verteilt waren, eigentlich keine Aufgabe übrigblieb.
Es verfolgte mich wohl das Unglück.
Natürlich war ich innerlich empört – vor allem darüber, dass Ulrike keine Anstalten machte, für mich zu kämpfen, während sie selbst von allen als Protagonistin anerkannt war und daneben noch die Kasse verwalten sollte. Überhaupt schien jeder zufrieden. Selbst der etwas nicklige, grauhäutige Kerl, der nichts anderes zu tun hatte, als vor den Aufführungen zu überprüfen, ob die Requisiten an ihrem Ort waren, blühte auf – wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass man ihn gleich hinauswürfe; weil er so hässlich war.
Ich versuchte, vernünftig zu sein, mir eine Aufgabe zu suchen und verfiel darauf, unbekannte Stücke aufzustöbern, zu lesen, zu sammeln – mir war da insbesondere ein Stück in Erinnerung, in dem ein Engel vorkam, der, laut Regieanweisung, durch den Raum schweben musste. Ich erinnerte mich weder an den Titel noch an die genaue Handlung; wer es geschrieben hatte, wusste ich auch nicht mehr. Aber ich wollte es finden, der Gruppe vorschlagen und hoffte, auf diese Weise meinen Stand zu verbessern.
Der Ansporn für die Gruppe war enorm. Man hatte Aussicht, sich an prominenter Stelle verkaufen zu können; in meinem verzagten Herzen verstand und bewunderte ich den außerordentlichen Instinkt, den die anderen bewiesen hatten, indem sie zögerten, mir größere Verantwortung in die Hände zu legen.
Es ist schlimm, andere in nächster Nähe begeistert bei der Arbeit zu sehen. Niemand schickte mich fort, aber immer häufiger blieb ich den Proben fern.
Mein Bruder ist erfolgreicher. Er hat ein naturwissenschaftliches Examen abgelegt. Ich bewundere seine Disziplin und sein Selbstbewusstsein. Sein Plan stand auch gleich fest: erst einmal wollte er sich ausschließlich den Sternen widmen, auf eigene Faust Forschung betreiben – um dann, wenn sein Leben zu einem Ende kommt, die Ergebnisse gesammelt herauszugeben. Ich habe lange nichts von ihm gehört, rechne aber damit, dass er Großes vollbringt.
Das Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören und eigentlich doch nicht zu ihr zu gehören, versetzte mich in eine schreckliche Unruhe. Ich besuchte jetzt häufiger meine Mutter, die, etwas versponnen, in einem der bekannten Berliner Hinterhäuser wohnte. Seit mein Vater gestorben war, war sie sehr mit sich beschäftigt.
„Siehst du", sagte sie und zeigte mir ein verjährtes Tagebuch, „ich bin sehr überrascht. Hier findet sich nämlich der Tag, an dem ich etwas über ein Forschungsprojekt, die Sterne betreffend, notiert habe, aber von Sigbert selbst", das ist mein Bruder, „findet sich gar nichts. So viele Leerstellen", sagte sie dann noch und blätterte die unbeschriebenen Seiten durch. „Das ist auf immer verloren."
Dann stieß sie mich mit dem Ellbogen in die Seite, zog triumphierend ein kleines Blatt zwischen den Seiten hervor: darauf gemalt, in grausilberner Wasserfarbe, klein, ein erigierter Kinderschwanz.
„Jetzt willst du mir partout einreden, dass ich das gemalt habe", rief ich. „Eher glaube ich, dass du selbst das warst."
Ich warf mich in den Mantel und rannte weg. Ich habe nicht einmal mehr überprüft, ob sie mit genügend Nahrungsmitteln versorgt war.

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