Herr Brandeisen


(aus: KR / Kleiner Roman über die Angst)

Herr Brandeisen öffnet mir die Tür.
„Wo hast du dein Lätzchen? Ich dachte, du hast ein Lätzchen um“, sagt er.
Ein Mann, der Geld gibt, kann sich alles leisten.
„Ich habe mit dem dicken Regisseur gesprochen. Er meint, X-Town sei grad das richtige Theater für dich. Niederstes Mittelmaß, da kannst du dir den Dreck von den Schuhen treten. Aber dass sich die Investition in dich gelohnt hätte, kann man nicht sagen ...“
Wider Willen schuldbewusst nehme ich am Tisch Platz.
„Mehr als eine Tomatensuppe ist unter diesen Umständen nicht drin“, sagt Herr Brandeisen. Dann fährt Chrissie, seine ukrainische Haushälterin, aber doch noch gebratene Hähnchenbrust auf.
Obschon ich bereits nach drei Minuten des Zusammenseins mit Herrn Brandeisen allen Grund hätte, mich erniedrigt zu fühlen, entspanne ich mich und freue mich, wieder einmal hier zu sein. Der Parkettboden, die Teppiche, die verdeckten Lampen, das teils antike, teils moderne Mobiliar, der Luxus beruhigen mich. Ach ... Das kann Geld! Ja, und davon redet Herr Brandeisen ja auch immer! „Erst die Existenz, dann die Essenz!“ So hat er es sich eingerichtet – aber natürlich bleibt, bei dieser Form der Existenz, ein Teil der Essenz auf der Strecke. Das ist klar, denke ich.
Die ukrainische Haushälterin ist, natürlich, hübsch.
Herr Brandeisen beachtet sie gar nicht, aber das kann täuschen.
Er kauft sich alles, was er will.
Auch mich hat er gekauft. Aber ich zerreiße den Vertrag!
„Dass du irgendwann kündigen würdest, war ja klar“, sagt Herr Brandeisen. Das könnte, denke ich, der Beginn einer versöhnlichen Runde sein, aber ich bin auf der Hut. Tatsächlich geht der Text so weiter: „Es gibt Menschen, die die offene Tür immer knapp verfehlen. Natürlich“, sagt er, „gibt es auch Menschen, die vor lauter offenen Türen nicht sehen, dass nichts dahinter ist ..“ Er hat sich ungeschickt in die Hähnchenbrust verbissen, plötzlich hat er das Gebiss mit samt dem Fleisch in der Hand.
Rasch sieht er mich an.
Ich senke den Blick.
„Du verstehst doch was von Träumen“, sagt er. „Vielleicht kannst du die in den Sand gesetzte Investition auf diese Weise wettmachen.“ In den Sand gesetzt!, denke ich bitter. „Ich träume von meinem Vater“, fährt er fort (und hat das Gebiss inzwischen wieder eingesetzt). „Er ist schwarz gekleidet und steht, wie es scheint, auf sehr wackligen Gliedmaßen. Bei jedem Schritt hebt er seine dünnen Beinchen unsicher in die Höhe, wie eine Kasperlfigur. Ich schau mir das eine Weile an. Dann sage ich zu ihm: `Du bist doch immer wieder für eine Quizsendung gut!´ Daraufhin zerfällt er zu Staub. Komplett zu Staub. `Schauspieler´, denke ich und dreh mich um. Hinter mir sehe ich einen gigantischen Wolkenkratzer, dessen Fenster in der Morgensonne glitzern. Ich erwache, schweißgebadet, Nun sag du mir, was das bedeutet.“
Wie kann er glauben, ich könnte seinen Traum deuten.
Was führt er denn im Schilde?
Ich suche Zeit zu gewinnen.
„Der manifeste Inhalt des Traums ist selten der maßgebliche. Natürlich unterscheiden sich die Schulen.“
„Welcher hängst du an?“, fragt er nachlässig, während er mehrere Kartoffeln hintereinander in den Mund schiebt und mit dem Mahlwerk beginnt.
„Das ist eine Sache der Tagesverfassung“, sage ich wahrheitsgemäß.
Das gefällt Herrn Brandeisen. „Da geht es dir ganz wie mir hinsichtlich ökonomischer Theorien. Interessanterweise habe ich mit meinen finanziellen Transaktionen immer Glück, egal, nach welcher ich mich richte.“
„Der latente Inhalt des Traums ist wichtiger, aber schwerer zu erschließen. Er verbirgt sich geschickt und lässt nur unschuldig scheinende Stellvertreterbilder zurück. Leider“, ich greife nach dem (fabelhaften) Wein, „ist hier jeder seines eigenen Glücks Schmied. Ihre Assoziationen zählen. Ich kann nur Hilfestellung geben ...“
„Das ist langweilig“, sagt Herr Brandeisen.
„Immerhin bleiben zumeist Unstimmigkeiten, die der sekundäre Traumbearbeiter nicht mehr zu glätten gewusst hat.“ Ich strenge mich (wie ein Schulbub!) an, Punkte zu machen. „Er ist nicht schnell genug fertig geworden. Das wache Bewusstsein kehrt schon zurück.
Übrig bleibt so zum Beispiel ... die Quizsendung ...“
Herr Brandeisen nickt.
So nickt er, denke ich, auch dem Kanzler zu, wenn der ihm vom letzten Urlaub erzählt.
Jetzt legt er eine Platte auf. Wir hören die dritte Sinfonie von Anton Bruckner. In atemberaubender Lautstärke. Herr Brandeisen dirigiert. Nun steht er selbst – denke ich – auf sehr wackligen Beinen mitten im Raum. Tatsächlich trägt ja auch er Schwarz!
Plötzlich erwarte ich, dass er zu Staub zerfällt!
Und da geschieht es.
Er zerfällt zu Staub. Nur der Dirigentenstab behält seine Form und rollt der entsetzt dastehenden Chrissie, die gerade den Tisch abräumt, vor die Füße!
Instinktiv drehe ich mich um.
Der Wolkenkratzer! Die glitzernden Fenster!
Ich spüre, wie die Brust sich hebt und senkt, frei wie nie.
Ich zerstöre die Kette der Ahnen, denke ich.
Alle Protektion ist Kasperltheater.
Das Leben ist eine Quizsendung, natürlich. Aber auch der Quizmaster kennt die Antworten nicht. Wende dich ab! Von allen, die dringlich die immer selbe Frage stellen: was willst du mit deinem Leben anfangen!
Der Wolkenkratzer scheint sich über mich zu beugen. Das sind die stürzenden Linien.
Ich öffne die Arme.
Um die oberste Spitze des Gebäudes kreist ein Schwarm schwarzer Vögel. Ihre Formationen folgen einer unergründlichen Logik.
Ich winke, winke ...
Herr Brandeisen stößt mich rüde an der Schulter an.
„Eingeschlafen?“ fragt er.
Seine Nase (sehe ich) ist von allem Fleisch entblößt. Die Nase eines Totenschädels.
Ich bin nicht irritiert, ich bin belustigt.
„Im Grunde“, sage ich, und schaue ihn (so hoffe ich) voller Verachtung an, „ist der Traum so deutlich, dass es nichts dazu zu sagen gibt.“
„Welcher Traum?“
Herr Brandeisen schüttelt den Kopf.
„Wenn du in X-Town bist, ist es vorbei mit den Monatszahlungen.“
Eine Tür springt auf, der dicke Regisseur, Patrizia, Sascha, der eitle Sascha (in einem Minirock), Jessica, die Hand verlegen vor dem Gesicht, stürzen herein, als habe man sie lange in einer kleinen Abstellkammer eingepfercht festgehalten. Laut brüllen Trompeten hinter ihnen. Das ist der Bruckner, denke ich. Dann tanzen sie auf einer schrägen Ebene abwärts in den Innenhof des Hauses.

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