Im Büro des Intendanten


(aus: KR / Kleiner Roman über die Angst)

Immer wieder überschwemmen mich euphorische, ja seltsam dankbare Gefühle.
Ich taste, in der Innentasche meines Jacketts, nach dem Text der Hauptrolle, den ich immer mit mir herumtrage. Wie großartig es ist: leben, tätig sein, sich entfalten!
Ich betrete das Theater.
Ich wische mir die Tränen (der Rührung) aus den Augen, ehe ich das Büro des Intendanten betrete. Ich überreiche Fr. Bogusch einen Blumenstrauß, als Dank für die Vermittlung der Wohnung. Ich sage – und strecke dabei die Arme aus – alle Zimmer lägen auf der Sonnenseite, selbst die nach Norden hinaus.
„Interessant“, sagt der Intendant, der gerade hereinkommt. Er legt ein Textkonvolut auf Fr. Boguschs Tisch, schüttelt mir kurz die Hand und winkt mich in sein Büro.
Er lässt die Tür hinter mir offen. Mit einem Blick zurück sehe ich, dass Fr. Bogusch den Text missmutig über den Daumen schnipsen lässt, offenbar prüft sie den Umfang – und macht sich jetzt an die Arbeit.
Der Intendant legt eine Kassette in den Videorekorder.
„Das ist ihr neuer Regisseur“, sagt er.
Ich bin erstaunt. Dass Schauspieler sich mit Videos bewerben, ja, dass diese Videos mitunter nicht nur Rollenmitschnitte, sondern auch privates Material umfassen, das ist mir zu Ohren gekommen. Aber Regisseure?
„Ich bin der Meinung, das ist Auffassungssache“, höre ich als erstes, dann streikt der Ton. Der Mann in dem Video, ein vermutlich homosexueller, dürrer Mittdreißiger, antwortet auf die Fragen eines Journalisten, aber es ist nichts mehr zu verstehen. „Er hat einiges zu sagen“, sagt der Intendant. „Es ist wichtig, talentierte Leute so früh wie möglich ans Haus zu binden. Von T&H wird man noch hören, und für X-Town wird es gewinnbringend sein, dass wir ihm als eines der ersten Theater Gelegenheit zur Entfaltung gegeben haben. Natürlich lässt sich so ein Mann nichts vorschreiben.“
Jetzt sieht man ihn in den Reihen eines leeren Zuschauerraums sitzen. Offenbar verfolgt er ein szenisches Geschehen auf der Bühne. Er zieht ein langes Gesicht und kaut auf dem Bügel seiner Brille.
„Man muss auch einmal durchgreifen können“, sagt der Intendant genüsslich. „Jetzt – gleich ... Achtung ...“ Ich sehe, wie T&H das Textbuch auf die Bühne schmeißt und einem jungen Schauspieler mit ausgestrecktem Zeigefinger fortgesetzt auf die Brust tippt. „Und auch verzeihen“, murmelt der Intendant. „Da ... “ T&H schüttelt dem (selben) jungen Schauspieler anlässlich einer Preisverleihung die Hand.
„Es ist mir wichtig, dass die Schauspieler des Ensembles, und gerade die jungen, eine Entwicklung durchmachen können. Um das zu gewährleisten, braucht es Regiekräfte, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind und – die Tricks kennen ...“ Der Intendant lacht. „Das wollte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Obschon ja klar ist, dass Sie“, er verbeugt sich knapp vor mir, „mit einem ganz anderen Erfahrungsschatz zu uns kommen.“
Er fragt mich, ob ich denn am Centraltheater Zeuge der großartigen, viel zitierten Auseinandersetzung zwischen den Herren W*** und R*** geworden sei. Sie sollen sich ja als Orgon und Tartuffe wahre Schlachten geliefert haben! Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon er redet, bestätige aber unbestimmt. „Tartüffisieren – tartüffizieren ... Ich habe mich totgelacht, als ich davon hörte ... Nun, das wäre auch ein Stück, über das man nachdenken kann. Wenn man die rechten Kräfte am Hause hat, warum nicht!“
Er schiebt mich mit leerem Blick ins Vorzimmer. „Probenbeginn in einer Woche. Sie sind bereits informiert, nehme ich an ... Zur Zeit ist T&H noch auf dem legendären Festival in Edinburgh. Sonst hätte man natürlich früher beginnen können. Aber ein Schauspieler hat ja immer den Text, in den er seine Nase stecken kann.“
Im Vorzimmer sitzt Fr. Bogusch in Tipp-Trance. Täusche ich mich nicht, so hat sie bereits an die 15 Seiten des Textes abgeschrieben, und wie ihre Finger über die Tastatur rasen, glaube ich´s gern. Vor ihrem Schreibtisch steht, abwartend ein Dokument in der Hand – es könnte der Vertrag sein: wenn ich mich ein wenig geschickt an seine Seite stelle, kann ich vielleicht erkennen, wie viel er verdient! – ein junger Schauspieler, der mir gleich die freie Hand hinhält. Was für einen geckenhaften Schal er trägt! Ich bin instinktiv ablehnend. Das ist ein Anfänger, und Anfänger halten sich für frisch geschürftes Gold. Dieser hier besonders, wie! Einer von den Schönen, denke ich ...
Ich schlage ein, er nennt (mit krächzender Stimme, da wird er aber noch schwer dran arbeiten müssen!) seinen Namen. „Du bist der, der vom Centraltheater kommt?“, fragt er anerkennend. Ich gebe mich reserviert, bin ihm aber doch gleich etwas gewogener. Auch entdecke ich jetzt, mit einem verdeckten Blick auf seinen Vertrag, dass er deutlich weniger verdient als ich. Das besänftigt mich ebenfalls. Ich frage noch einmal, etwas gönnerisch, so scheint mir selbst, nach, wie er heißt.
„Dirk-Henner.“
Als ich – ich habe die Blumen in der Vase, eine Verlegenheitsgeste, mit ein, zwei Handgriffen umgeordnet, Fr. Bogusch registriert es, aufschauend, mit zerstreutem Lächeln, Dirk-Henner seinerseits folgt dem ungeduldig hustenden Intendanten nach nebenan – als ich auf die Tür zugehe, fliegt diese auf und knallt mir gegen die ausgestreckte Hand.
„Türen sollten sich in Richtung des Fluchtwegs öffnen“, sagt jemand, die Worte wie Kaugummi dehnend. „Aber dann hätte jetzt ich und nicht du den verstauchten Knöchel. Gut, dass du Schauspieler bist und nicht Pianist.“
So lerne ich einen weiteren Kollegen kennen.
Als ich im Hof wieder aufs Fahrrad steige, wird mir klar, dass Kollegenschaft Konkurrenz bedeutet. Ich sage leise vor mich hin: „Ich bin bereit, gutes Einvernehmen mit allen herzustellen, aber ich werde auch Entschlossenheit zeigen, wo ich zum Kampf gefordert werde.“
Diese Sätze kräftigen mich, und ich verscheuche die Schatten, die der kurze Besuch im Theater hinterlassen hat.

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