Die goldene Maske
1
Wir finden am Waldrand, in einer Mulde, die aussieht, als habe nicht der Naturprozess, sondern eine Hand sie geschaffen, eine Goldmaske.
Über der Lichtung steht eine Gewitterwolke.
„Schauen wir hinauf, schauen wir hinunter?“, denke ich. Beides ist beeindruckend: die Wolke, die Maske.
2
In der Straßenbahn.
Maske in der Tüte.
Vor uns zwei Mädchen, beide haben die gleiche Frisur: Zöpfe.
Das eine Mädchen sagt: „Es ist Blödsinn, eine Mutter haben zu wollen, wenn man keine hat.“
Das andere: „Wenn man eine hat, besteht kein Grund, eine haben zu wollen.“
Quietschende Bremse. Stillstand in einer Kurve.
Wir schauen aus dem Fenster: Nichts.
Diesiges Licht. Häuserfronten. Inschriften.
Kaltes Arbeiten in mir.
Wir stehen auf, wir öffnen mit einem Ruck die Tür und steigen aus.
„Ich kaufe mir einen neuen Farbkasten“, sagt eins der Mädchen.
3
Mein Bruder und ich teilen uns die Maske.
Den einen Tag trägt er sie, den anderen ich.
Wir überlegen, einen Vertrag darüber aufzusetzen.
Für den Fall, dass wir uneins werden.
So etwas geschieht.
Wir könnten zum Beispiel plötzlich auf die Idee kommen, uns zu fragen, wer die Maske zuerst entdeckt hat. (Er war es.) Oder, wer sie genommen und in die Plastiktüte getan hat. (Er war es.)
4
Darüber will ich mich näher auslassen. Das Verhältnis zu meinem Bruder ist unambivalent. Er war schon da, als ich kam, das hat bis heute Gültigkeit und Folgen. Gehen wir essen, warte ich, bis er sich gesetzt hat. Gilt es, das neue Modellflugzeug auszuprobieren, lasse ich ihm den Vortritt. Umwerben wir dieselbe Frau, gebe ich mich dümmer, als ich´s bin – und wenn das den Ausschlag nicht gibt, werde ich ausfallend und mache mich auf diese Weise unmöglich.
Es bleibt genug Fleisch für mich übrig, im Leben. Ich kenne keine
Eifersucht.
Leider bin ich talentierter als er. Im weitesten Sinn.
Ich kann es nicht immer verbergen.
5
Wir stellen die Maske auf einen Sockel.
Die Augenlöcher wirken sehr bedrohlich.
„Gold ist die Farbe der Verwandlung“, sagt mein Bruder.
6
Dann geht alles sehr schnell. Man kommt uns auf die Schliche. Wir werden beschuldigt, dem Mann, der die Maske trug, den Kopf abgeschnitten zu haben. (Eventuell, wird konzediert, mit seiner Einwilligung, das entlaste uns aber nicht vor dem Gesetz.) Natürlich sind die Vorwürfe ungerechtfertigt, aber wir können nicht beweisen, dass wir die Maske (die, wie wir erfahren, einen enormen Wert hat, da sie aus dem Grab eines ägyptischen Königs stammt) im Wald gefunden haben. Wir verwickeln uns auch, verständlich, da unser normales (bürgerliches) Leben auf dem Spiel steht, in Widersprüche, aus reiner Nervosität. Sagt mein Bruder (Paul), es sei Nachmittag gewesen und aus dem nahegelegenen Bauernhaus sei Rauch aufgestiegen, behaupte ich, dort hätten wir, kurz vor Eintritt der Nacht, geklopft, um nach rechtmäßigen Besitzern (der Maske) zu fahnden, es sei aber niemand da gewesen, alle Fensterläden seien verrammelt gewesen. Und während mein Bruder (klugerweise) sagt, unser Interesse an der Maske sei rein historisch, glaube ich, uns einen Gefallen zu tun, indem ich (fälschlicherweise) ein (falsches) Geständnis abgebe und erkläre, wir hätten bereits Kontakte zu Kleinkriminellen aufgenommen, um die Maske zu verkaufen. Einmal brülle ich laut: „Die Maske ist verflucht, nehmt sie uns von den Gesichtern!“
Nachts brüten wir darüber, ob wir den, der dem Besitzer der Maske den Kopf abgeschnitten hat, womöglich kennen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Ob er vielleicht in den letzten Wochen, seit wir im Besitz der Maske sind, unseren Weg kreuzte, ohne seine Absichten zu erkennen zu geben. Wir erinnern uns an einen schwarz gekleideten Mann, der uns einen Tag lang auf einem Moped zu verfolgen schien – wir glaubten, er mache sich einen Spaß, und grüßten ihn. Aber vielleicht trug er die Tatwaffe, das Skalpell, in der Jackentasche.
Nun geistert das Moped nachts durch meine Träume.
Der Gefängnispsychologe sagt: „Die ganze Wahrheit ist ja in Ihnen. Aber es braucht Zeit, sie ans Tageslicht zu bringen. Sie tritt in Fragmenten und Überblendungen auf man muss“, sagt er (und das ist wohl symbolisch zu verstehen, denn wir haben ihm von dem Mopedfahrer nichts erzählt), „man muss den Schwarzen Mann an seiner Fußspur erkennen.“
Ich bin für solche Gedanken offen.
Mein Bruder schmeißt aber, wenn wir so weit sind, den Nachttisch um.
7
Besuch der Mutter,
Sie nimmt uns in die Arme.
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