Klein-Ems


(aus: KR / Kleiner Roman über die Angst)

Im Zug.
Vor den Fenstern fällt die Winterdämmerung. Die vereinzelten Bauernhäuser im ehemaligen Grenzland liegen dunkel da.
Ich spüre, wie alles, was den tätigen Morgen ausmachte, in sich zusammensinkt. In einem Buch in der Bahnhofsbuchhandlung lese ich: Wenn die Depression nachlässt, ist die gefährlichste Zeit gekommen. Die Kraft nimmt zu, und fällt der Kranke kurzzeitig in den überwunden geglaubten Zustand zurück, so können auch die Selbstmordtendenzen auf eine stärkere Kraft rechnen, in dieser Phase bringen sich viele Gefährdete um.
„Das ist nicht dein Fall!“
Ich rede mir gut zu.
Die Schattierungen des Himmels, die tief hängenden Wolken reißen mir die Seele auf. Warum nur – es ist ein schöner Anblick ...
Ich sehe, plötzlich und mit halluzinatorischer Deutlichkeit, eine Gitarre mit abgebrochenem Hals vor mir ...
Ich bin streng zu mir!
Entwickel Biss! Du bist es, der in deinem eigenen Seelenhaus für Ordnung sorgen muss – nun fährst du zu Pfefferminz, du willst ihr dein Leid klagen, so wird es nie was! Angst – na und? Ist Angst etwa keine Energie? Und wäre Energie nicht vieldeutig? Leite sie um. Mach Wut aus ihr, wenigstens das – Wut darüber, wie viel Zeit du vergeudest! Wie viel Zeit ich vergeude!
Nun bin ich wieder reingefallen.
Es geht wirklich nicht darum, weitere Messer ins eigene Fleisch zu treiben! Es gilt, dich zu lieben, dir die eigene Mutter zu sein. Hörst du? Wie man das macht? Was weiß ich, du wirst es herausfinden. Aktive Liebe, darum geht es. Was könntest du einem Säugling, ja, einem ungeborenen Fötus, der in der Mutter feststeckt und nicht wissen kann, dass man ihn früher oder später herausholen wird, was könntest du ihm, der keine Worte versteht, dem du mit deiner Weltweisheit nichts vermitteln kannst, was könntest du ihm Gutes tun? Du kannst nicht mehr tun, als ihn in den Arm nehmen, ihn streicheln, ihn wärmen, ihn in Schlaf singen. Aber warum dann erfüllt es mich mit Angst, wenn ich, im Polster des Sitzes liegend, den leisen Flügelschlag des Schlafes nahen höre. Warum schrecke ich auf! Als gelte es, das Bewusstsein um jeden Preis wach zu halten. Als könne Schreckliches geschehen, wenn ich im Traum, in der Ruhe, in der Stille des Nichts versinke ...
Ja, Energie ist beliebig einsetzbar. Ich sehe die Kolben eines Motors auf und ab gehen.
„Verwandle die Angst in Willen, in Biss ...“
Das Feuer der Angst –
Jetzt ist die Dunkelheit vollkommen.
Der Zug hat lange nicht gehalten. Fahrgäste steigen in meiner Nähe über abgestellte Taschen hinweg. Es ist mir, als liege über ihrem Anblick ein gelblicher Schleier. „Das ist die Wagenbeleuchtung, sonst nichts.“ Eine geschlossene Schranke draußen, im Licht einer Straßenlaterne, erscheint mir ganz unwirklich.
„Heute abend werde ich ficken.“ (Ich spüre nach, ob das rüde Wort mich weckt. Aber ich bleibe traumwandlerisch, belegt.)
Ich gebe auf. Ich lasse los.
Ich spüre, wie die Tränen kommen. Ich weiß nicht, ob ich nachher erleichtert sein werde, oder ob, wie oft in letzter Zeit, wenn ich weine, die Angst nur steigen wird, eine Flut, die mich mit sich reißt. Ich drehe mich zum Fenster und vergehe –

Das Dunkel bricht an.
Der Tod zieht durch Klein-Ems.
Nirgends ist Heimat,
Wenn du´s nicht willst.

Leg die Blumen ans Grab
Und sag Ade.
Deine Väter und Vorväter haben es auch so getan.
Nirgends ist Heimat,
Wenn du´s nicht willst.

Über Morgen liegt ein Tuch.
Möge es lüften, wer will.
Deins ist zu gehen,
Glück suchend,
Wissend ums Leid.
Nirgends ist Heimat,
Wenn du´s nicht willst.


In Neu-Kopierstadt steht Pfefferminz auf dem Bahnsteig.
„Trés chic“, sagt sie zu meinem neuen Schal.
Ich bin belustigt über ihrem altmodischen Anorak und fasse ihr gleich unter den Gürtel.
„Ich habe mich ausgeschlossen. Wir müssen bei einer Freundin den Schlüssel holen.“
Die Freundin arbeitet in der Psychiatrie.
Angst vor der Verrücktheit, sagt sie auf Nachfrage, hätten diese Leute nie.
„Du hast Nutzen von der Angst“, sagt Pfefferminz auf dem Weg zu ihrer Wohnung (und am liebsten würde sie sich bereits vor der Haustür ausziehen) „sonst hättest du dich längst gerettet.“
„Das stimmt.“
Ich überlege (und wir kommen schlecht die Treppe hoch, weil wir schon küssen, weil die Hosen schon unter den Schritt rutschen und weil sie mir schon das Kondom überzieht), dass ich wohl erwarte, ganz unten, da wo die Angst entspringt und immer wieder neu entspringt, da, wo das schwarze Land seinen Nabel hat, sei die Geburt des Bewusstseins selbst zu erfahren. Als könne sich dort, am tiefsten Punkt, in einem einzigen Bild mein ganzes Dasein, meine ganze Seelenlandschaft vor mir eröffnen. Die Angst sucht die Offenbarung.
Mit den Füßen stoße ich eben noch die Wohnungstür hinter uns zu.

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