Konzeptionsprobe
(aus: KR / Kleiner Roman über die Angst)
Ich merke gleich, T&H (der Regisseur) hat die einschlägige Sekundärliteratur zum Stück nicht gelesen. Natürlich wäre es dumm, ihn spüren zu lassen, dass ich es weiß. Ich bin nachsichtig. In diesem Moment sagt er: „Ich habe die Lektüre bestimmter Bücher bewusst unterlassen. Es ist ja nicht unsere Aufgabe, eine Stückinterpretation auf die Bühne zu bringen, wie sie die gymnasiale Oberstufe im Deutschunterricht einübt. Zwar sitzen im Publikum reihenweise Menschen, die diese Erwartung an uns haben, aber denen gilt es diesen Unsinn auszutreiben. Das ist jedenfalls meine Auffassung der Dinge. Hat jemand irgendwas von diesen Sachen gelesen?“
Ich sehe mich um, als käme ich gewiss nicht in Frage.
„Nun“, fährt T&H fort, „sonst hätten wir immerhin einen, dem wir fragen können, wenn wir nicht weiter wissen.“
Bernd Brüning räuspert sich: er hat eine psychoanalytisch orientierte Interpretation aus dem Jahre 1908 gelesen, die er im Bücherschrank seines Großvaters gefunden hat. Höhnisch zitiert er ein paar Sätze, die den Grundkonflikt des Stücks aus dem ödipalen Dreieck herleiten. „Daran werden wir uns halten“, sagt T&H abfällig.
Anastasia neben mir schaut vor sich hin auf den Boden.
Anastasia spielt die Königin. Das sieht man gleich! Als sie den Raum betrat – mir fielen die Badeschlappen auf, die sie trug, und ich dachte mir: sie kommt vom Strand! – und sie sich suchend nach einem Stuhl umsah, fiel ihr Blick auf mich, und ich, vorgreifend unser Verhältnis im Stück im Sinn, sah ihr mit starkem, erotisch gefärbten Blick geradewegs ins Auge. (So meine Absicht!) Wie erstaunt, ja verwundert sie mich ansah!
Anastasia sagt wenig. Wenn, ist es, als verteidige sie sich gegen Vorschläge, die ihr für die Rollengestaltung gemacht werden, die aber gar nicht erfolgt sind.
Insgeheim verstehe ich T&H, dass er ihr gegenüber ungeduldig auftritt, obschon ich, als der Geliebte der Königin, loyal an ihrer Seite stehen möchte.
Ich ahne, Anastasia und ich werden ein enges, persönliches Verhältnis haben.
Aber sexuell, denke ich, ist da nichts zu machen!
„An Freud ist vieles Zeitgeschichte“, sage ich jetzt – und ich beginne so plötzlich zu reden, dass es mich selbst überrumpelt, ich sollte Bernd Brünings Scherze lieber unkommentiert vorbeigehen lassen! – „und natürlich ist das ödipale Dreieck zu allerlei Stirnrunzeln und Schmunzeln gut, es ist ja auch nichts anderes, darüber sind sich die meisten heute einig, als die Projektion einer speziellen, historisch kontingenten Familienstruktur sowie einer ebenso kontingenten Geschlechtermoral. Ich halte auch, damit da keine Missverständnisse aufkommen, nichts von unhinterfragtem Respekt Geistesgrößen der Vergangenheit gegenüber, nichts ist ja schlimmer als die Bildungspolizei, aber Freud ist einer der großen Befreier gewesen, er hat dieses unser ausgehendes Jahrhundert geprägt wie wenige andere, und vielleicht sollte man nicht allzu forsch Witze auf seine Kosten machen.“
„Ich remittiere“, ruft Bernd mit gehobenen Händen. Die Stimmung ist augenblicklich gedämpft.
T&H schlägt missmutig die langen Beine übereinander.
Ich bin erhitzt. Ich fühle mich, zu Recht oder Unrecht, in einen Kampf verwickelt. Obschon ich weiß, wohin es führt, setze ich nach: die Sekundärliteratur erwähne immer wieder die Bedeutung der psychoanalytischen Kategorien für die literarische Analyse der Dramen des Autors (es handelt sich um Schiller), und als T&H mich, den Text in die Höhe haltend, unterbrechen will, lasse ich mich gar hinreißen, recht unfreundlich zu sagen: „Bitte lassen Sie mich ausreden!“ Roland, der im Stück den Aktenverwalter spielt, lacht. Warum sieze ich T&H plötzlich –
Schließlich trete ich mir mit dem linken Fuß kräftig auf den rechten. Der Schmerz bringt mich zur Besinnung. Ich sage leutselig: „Ich bin mit Freud weitläufig verwandt, das erklärt meine Parteinahme. Meine Freundin wiederum hält von Freud gar nichts, deshalb bin ich gewohnt, ihn in Schutz zu nehmen ...“ Ich verteile Lakritzbonbons, ich spüre, dass ich wieder in den Kreis der Gemeinschaft aufgenommen werde. Ich signalisiere Bernd Brüning, dass ich den Text, von dem er erzählt, gern einmal lesen würde. Er sagt, der Text sei ihm, zerlesen, ohne Buchrücken, mit aufgelöster Bindung, wie er war, am Strand unter den Händen zerflattert und aufs Meer hinausgetrieben.
Jemand reißt ein Fenster auf.
T&H präsentiert die Kostüme. Es macht nicht den Eindruck, als seien kritische Einwände, wären sie noch so begründet, erwünscht. Die Bühne halte ich sofort für unbespielbar, aber ich sage nichts. Wer Augen hat, kann sehen, dass ich mich bei der näheren Betrachtung des Modells in der zweiten Reihe halte, ein Bein lässig vor das andere gestellt. Ich werfe jetzt auch bereits Blicke in die Tiefe der Probenbühne. Das kann mir niemand vorwerfen, schließlich kenne ich die Räumlichkeiten nicht. Die Souffleuse nickt mir anerkennend zu. „Was heißt kontingent“, raunt sie mir zu. „Zufällig“, sage ich.
Wir lesen das Stück.
T&H macht Lennert auf seine krächzende Stimme aufmerksam. Ich sehe, wie Lennert in der Folge nur noch auf seine Stimme achtet und sich dessen, was er liest, nicht mehr bewusst ist. Täusche ich mich? Höre ich T&H leise stöhnen?
Bernd Brüning liest keinen Satz fehlerlos, so als sei ihm das Stück vollkommen fremd. Ich erwarte, dass T&H ihn gleich fragen wird, ob er das Stück überhaupt gelesen hat, statt dessen sagt er plötzlich, es sei seiner Ansicht nach sehr wichtig, den Text immer wieder zu lesen, als sei es das erste Mal. Bernd Brüning ruft emphatisch: „Ein Regisseur mit vernünftigen Grundsätzen.“ Würde ich so etwas sagen, würden alle vor Entsetzen erstarren. Bernd aber hat einen zwar zynischen, aber ansteckenden Humor. Schon lacht die Runde –
Anastasia liest leise, bis T&H sie auffordert, die Stimme ein wenig zu heben. Ich meinerseits lese, so kommt es mir vor, eloquent, im Ton bereits den Staatsmann andeutend, den ich zu spielen habe. Ich merke, dass meine die Grammatik und damit den Sinn der Sätze im Nu transparent machende Art des Lesens Eindruck macht. Umso überraschter bin ich, als mich T&H nachher beiseite nimmt und sagt: „Das war aber ein bisschen das Chargieren bei der Leseprobe, nicht wahr?“ Insgeheim alarmiert, winke ich ab. „Einmal muss es mal `raus.“ T&H nickt unfroh.
Im Hof treffe ich Anastasia, die zu warten scheint (raucht).
„Gehen wir etwas trinken?“ sage ich ungestüm. Sie zögert, nickt dann.
Im Café – ich winke Georgia zu, Anastasia ihrerseits einem Geschäftsmann, der am Tresen sitzt und in einer Zeitung blättert – sagt sie zu mir: „Das war schön, dass du Freud in Schutz genommen hast“, und keine drei Sätze später erfahren wir voneinander, dass wir große Fans des Psychoanalytikers (und Freudschülers) Wilhelm Reich und aller aus seiner Schule hervorgegangenen psychotherapeutisch orientierten Körpertherapien sind. (Ich erwähne Charlotte, sie Hartmut.) Wir glauben beide, dass der Nutzen, der aus diesen Körpertherapien für das Theaterspiel gezogen werden kann, immens und keineswegs ausreichend ausgelotet ist. Wir halten es durchaus für möglich, selbst an einem so kleinen Theater wie dem hiesigen in X-Town, wo die Kunst zweifellos immer dem kommerziellen Aspekt untergeordnet bleiben wird, alternative Probenwege einzuschlagen. Natürlich stehen nicht nur die kommerziellen Interessen, sondern auch die Hierarchien kontraproduktiv im Wege, aber die Verantwortung für das, was auf den Proben geschieht, haben – so glauben wir – auch wir Schauspieler zu übernehmen. Wir reden uns in Hitze.
Dann plötzlich, als uns die Glut im Auge steht, erstirbt der Redefluss.
Ich überlege, ob es nicht ganz im Sinne Reichs wäre, wenn wir jetzt miteinander ins Bett gingen. Aber – offen gesagt: Georgia zum Beispiel gefiele mir besser. Ich sehe den Blick des Geschäftsmanns zu Anastasia herüberwandern. Er raschelt mit der Zeitung.
Die Musik spielt sich in unsere Ohren.
Wortkarg zahlen wir und verabschieden uns.
„Ich bin froh“, sagt sie in fast abweisendem Ton, „dass du hier bist.“
Als ich nach Hause gehe, ist es immer noch hell am Horizont. Der 53. Breitengrad nördlich.
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