Luis im Regal


1
Ich betrete die Speisekammer, um das Brot zu holen. In einem Pappkarton auf dem obersten Regal sitzt Luis, mein Klavierlehrer. „Du lebst noch?“, sage ich unwillkürlich. Erst dann wundere ich mich darüber, ihn hier zu finden.
„Was machen die Finger?“, fragt er und schätzt, ängstlich über den Rand des Kartons schauend, die Entfernung zum Boden ab. „Übst du noch?“
„Wenn ich dazu komme“, sage ich ausweichend.
Ich sehe mich nach der Trittleiter um.
Habe ich nicht gestern in der Bibliothek, die ich nur noch selten betrete, eine Glühbirne in der Deckenlampe ausgewechselt? Bin ich dabei nicht sogar in Sekundenschlaf gefallen (vor Müdigkeit) und abgestürzt? Ich weiß für drei Sekunden – ein wenig zu lang, denk ich – nicht, ob ich das erlebt oder geträumt habe.
Aha. Ich finde die Leiter im Treppenhaus ... Richtig, ein Nachbar hat sie ausgeliehen. Jetzt fällt es mir ein, zweifelsfrei. Die Sache mit dem Sekundenschlaf in der Bibliothek habe ich also geträumt. Ich habe die Hoffnung, dass sich auch die Anwesenheit Luis´ in meiner Speisekammer als Traum erweist, aber ein leises Weinen, das lauter wird, je näher ich der Kammer komme, macht diese Hoffnung rasch zunichte.
„Was ist!“, sage ich mit einem unbeabsichtigten Anflug von Strenge und lehne die Leiter ans Regal. „Du bist ja hier nicht unter die Räuber geraten.“ Verflucht noch mal, wie klein er geworden ist! Als er jetzt, vorsichtig mit den Füßen die jeweils nächste Sprosse ertastend, herabsteigt, sehe ich, dass er mir kaum bis zum Gürtel reicht. Immerhin, ein ausgewachsener Mann! Er erreicht den Fußboden, sieht scheu zu mir auf und sagt: „Noch mal gut gegangen.“
„Sicher willst du den Flügel sehen “, sage ich, aus reiner Verlegenheit. Ich habe Luis seit dreißig Jahren nicht gesehen und weiß, offen gesagt, überhaupt nichts mit ihm anzufangen.
„Flügel?“ Er scheint nicht recht zu begreifen.
Aber als er mir jetzt ins Wohnzimmer folgt, dort den rötlich braunen Flügel aus Palisanderholz stehen sieht, als ich die Zierdecke abstreife (wie lang hab ich das Instrument nicht geöffnet!), als ich den Deckel hebe, unentschlossen das zweigestrichene f anschlage und sage: „Ich war wohl von allen guten Geistern verlassen!“, da merk ich schon, wie hinter mir eine Verwandlung vor sich geht.
Ich dreh mich um.

2
Später beim Abendbrot erzählt Luis mir, warum er so klein geworden ist. Er ist heiter und stopft sich Brote und Tomaten in den Mund. „Das dauernde Klavierspiel“, sagt er, „ ist natürlich eine Plage für Bandscheiben und Wirbelsäule. Ich hab es zunächst nicht gemerkt, aber jeder Akkord kostet einen Millimeter. Rachmaninov, das kannst du dir vorstellen, riskiere ich nur noch selten. Ich bin ja nicht mehr in einem Alter, in dem es darum geht, jemanden zu beeindrucken. Da kann man Rachmaninov getrost den Schallplatten überlassen.“
„Ich wusste nicht, dass deine Fähigkeiten ausreichen, um Rachmaninov zu spielen.“
„Darauf kannst du einen lassen“, sagt er.
Plötzlich trommelt er mit beiden Fäusten auf den Küchentisch.
„Und du?“, fährt er anschließend fort. „Du siehst immer noch aus wie damals, als du Pianist werden wolltest. Die gleichen hübschen Haarsträhnen, die dir ins Gesicht fallen, die gleiche Art, die Beine übereinander zu schlagen.“
„Ich wollte nie Pianist werden“, sage ich düster. „Du warst es, der mir eine Karriere aufschwatzen wollte. Aber ich konnte ja nicht mal ein Kinderlied fehlerlos spielen.“
„Das stimmt“, sagt Luis nachdenklich. „Ich hab es erst gemerkt, als ich mir später die Tonbänder angehört habe. Du hast mich halt auch verzaubert, mit deinen Haarsträhnen, deinen übereinandergeschlagenen Beinen.“

3
Was soll ich sagen! Er hat Recht.
Aber warum quält er mich.
Genau genommen versteht er gar nichts.
Er versteht nicht, was es für ein Gefühl ist, mit der Wandtapete zu verschmelzen und in ihr zu verschwinden.
Ab und zu helfe ich einem Jungen im Hof, sein Rad zu reparieren. Für ihn bin ich ein alter Mann. Der alte Mann ist für mich unsichtbar. Da hilft kein Blick in den Spiegel.

4
Jetzt spielt er wieder.
Luis verändert sich, wenn er spielt.
Ich hab es zunächst nicht glauben wollen. Ich habe angenommen, die unerwartete, mich verstörende Wiederbegegnung mit ihm, der altvertraute Klang seines Spiels versetze mich in Absencen, aber ich habe es unter wechselnden Bedingungen überprüft. Ich bin, unerwartet heimkommend, direkt in das Wohnzimmer hineingestürmt: Es war so. Ich habe während er spielte, meine Steuern erledigt (Nullrunde!), und nur ab und zu, wie man bei einem spielenden Kind nach dem Rechten sieht, zu ihm hingeschaut: Es war so. Ich habe mich vom Hof aus herangepirscht, durchs Fenster geblickt, immer war es dasselbe: Sein Oberkörper reichte bis zur Decke, und seine Beine ragten meterlang an den Seiten des Instruments vorbei ins Zimmer hinein (wenn er nicht grad das Pedal bediente). Früher sagte er zu mir: „Du wirst sehen, eines Tages wirst du mit dem Instrument verwachsen. Es wird an dir kleben, es wird hinter dir die Treppe runterrumpeln, wenn du das Haus verlässt.“ Was mich betrifft: Dazu ist es nie gekommen. Aber ich sehe nun, was für Phänomene so ein Prozess mit sich bringen kann.

5
Ich ziehe mich in die Bibliothek zurück. Von hier aus höre ich ihn kaum.
Auch hier habe ich mich lange nicht aufgehalten. Scheu sehe ich die Regale entlang. Das eine oder andere Buch steht etwas hervor. „Das bedeutet“, sage ich düster, „dass ich etwas nachschauen wollte.“
Ich schlage ein Buch auf. Ich kann mich nicht erinnern, es gelesen zu haben, aber ich finde überall meine Anmerkungen. Auf Seite 107 steht zum Beispiel: „Kommt noch!“
Was, denke ich. Was.
Deckel und Titelblatt des Buchs sind abgerissen und fehlen. Es beginnt gleich auf Seite 7 mit dem 1. Kapitel: „Fehlerfreie Rekapitulation, ein wünschenswertes Ziel“. Wahrscheinlich ein Buch übers Auswendiglernen. Ja, damit habe ich mich lange beschäftigt. Heute, denke ich, schreibe ich mir alles, was ich brauche, auf, ehe ich einkaufen gehe.
„Ein Millimeter“, sage ich laut, denn ich höre Luis die Schlussakkorde der g-Moll-Rhapsodie von Brahms spielen.
Tatsächlich kommt er jetzt zu mir hereingewackelt.
„Du musst schlafen“, sagt er fürsorglich.
„Ich kann nicht“, sage ich.
Er nickt bedeutsam. „Ein schweres Los“, sagt er.
Ich spiele mit den Fingern.
Von der Klavierkarriere ist nur diese Geste übriggeblieben.
Luis sagt, sein Vater sei vor vielen Jahren aus seinem Heimatland hierher gekommen, „in dieses hochtechnisierte Land“, um eine Operation vollziehen zu lassen, die in Uruguay niemand habe machen können, jedenfalls nicht ohne unannehmbare Risiken, sagt er. Er, Luis, habe die Kosten übernommen, alles organisiert, den Alten (so sagt er) versorgt, die Verwandten in der Heimat beruhigt. Alles sei gut gegangen, die Beschwerden hätten sich gelegt, der Alte sei froh gewesen und nach Hause zurückgekehrt. Dort aber, sagt er, habe ihn der Zweifel überkommen. Er habe, obschon es gar keinen Anhaltspunkt dafür gab, dauernd mit Rückfällen gerechnet. Er habe auch, ganz unsinnigerweise, geglaubt, die Ärzte hätten ein kleines Operationsbesteck in seinem Körper vergessen. Überhaupt, so habe er plötzlich behauptet, sei, den Körper aufzuschneiden, ein Eingriff, den Gott nicht verzeihe. Der Körper sei heilig. Schließlich habe er sich, da die Menschen in seiner Nähe unwillig geworden sind, zurückgezogen, sei verstummt, und nun sitze er – so höre er, Luis – in einer dunklen Ecke in einem Sessel, regungslos, und warte, niemand wisse, worauf.
„Ich warte, sagt er.“ Luis hebt den Zeigefinger.

6
Einmal hab ich ihn abgefangen, ehe er das Klavier erreichte. Er hat ja nur die Größe eines Kinds, und auch seine Kraft kommt nicht gegen meine an. Ich habe ihn im Hof in einen kleinen Hühnerstall gesperrt. Ich lasse ihn verhungern. Er ist nicht von dieser Welt, ich kann für diese Gewalttat nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Einmal sah ich durch ein kleines Fenster hinein. Da saß sein Vater neben ihm.
Ich warte.

7
Bald heirate ich.
Es wird sich vieles verändern.

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