Siehe, ein Genie!


Stadtauswärts, wo ich wegen einer Verfehlung strafweise Grünanlagen bearbeiten muss, passiert, auf dem Fahrrad, Kortendiek, ein Schulkamerad. Er erkennt mich, trotz der ungewohnten Tätigkeit, trotz der Schirmmütze.
„Salut." Ich erkläre ihm, was vorgefallen ist.
Er?
Sein Körper ähnelt mehr denn je einem Sack.
Das Studium ist ausgesetzt er übersetzt spaßeshalber Verse aus dem Sanskrit. Geld verdient er, indem er Computer verkauft, repariert u.ä.
„Komm mal zu mir", sagt er, „ich habe ein Genie zu Hause sitzen."
Das macht mich neugierig; den darauffolgenden freien Tag besuche ich ihn.
Wir wärmen die alten Zeiten auf.
Dann winkt er mir, öffnet leise die Tür zu einem Nebenraum und lässt mich hineinsehen.
Drinnen sitzt eine Frau, an einem kleinen Tischchen sie bemerkt uns nicht; obschon sie sogar in unserer Richtung schaut. Sie hat einen Bleistift im Mund, jetzt schreibt sie etwas nieder.
„Sie macht sich wirklich Gedanken, über das, was sie schreibt. Phänomenal", sagt Kortendiek, „ich hab' so etwas noch nicht erlebt. Ein echtes Genie. Sie kämpft um jeden Satz und bezahlt ihn. Ihre Seele ist so schwer, dass sie bei jedem Schritt alles mitnehmen muss die ganze Existenz. Natürlich geht alles sehr langsam zu; und sie leidet enorm. Sie geht kaum vor die Tür. Wenn sie ihre Zeiten hat, muss ich sehr auf sie aufpassen. Sie befindet sich dann plötzlich in Unterwäsche im Supermarkt und sucht etwas. Sie verletzt sich auch. Weitenteils ist sie aber regelrecht normal. Du kannst mit ihr reden. Du kannst sogar mit ihr ... "
Kortendiek stockt; er schaut wie gehetzt in das Zimmer.
„Ich tu alles für sie. Natürlich was sie da schreibt, speicher ich in den Computer ich fertige ein passables Lay-Out an; die ersten Kontakte zu Agenten sind geknüpft. Es wird ... "
„Wie heißt sie?"
„Katja."
Es ist nichts Auffälliges an ihr. Nur, dass sie sich nicht gegen ihr Schicksal aufbäumt. Jede Bewegung sagt das.
Ich begehre sie sofort.
„Manchmal macht sie Anstalten, mich zu verlassen", sagt Kortendiek,
„das ist dann sehr schlimm für mich. Aber ich glaube nicht, dass sie das je schafft. Ich habe sie von einem Gitarristen übernommen", er lacht, „der hat sie gleich nach der ersten Unterrichtsstunde behalten. So ist's mit ihr kannst du nichts machen."
Wir schauen ihr zu.
Sie starrt ins Leere, mit kleinen Knopfaugen.
„Du solltest das erleben, wenn die Intellektuellen kommen. Die bieten ihre ganze Eloquenz auf, sie werden elektrisch vor Angst. Katja sagt gar nichts aber alles, was die Herren sich überlegt haben, gerinnt zu Nichts. Katja hat vor nichts je Angst gehabt." „Aber es geht ihr nicht gut", sage ich; wir schließen die Tür.
„Das kann doch", sagt Kortendiek überzeugt, „wenn es um Genie geht, keine Frage sein.
Wir schütteln uns lang die Hand.
In die Sonne blinzeln, um die Ecke biegen stadteinwärts den halben freien Tag, glücklicherweise, habe ich noch zur Verfügung.

Oh Wahnsinn, du Verführung!
Morgen habe ich diesen verdammten Termin beim Arbeitsamt...

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